Die Organuhr ist ein äußerst nützliches Instrument für Shiatsu: Sie weißt auf viele genauso spannende wie effiziente Zusammenhänge innerhalb der Meridianstruktur hin, mit Hilfe derer wir unseren Behandlungszugang rasch vertiefen können.
Von Mike Mandl
Die Organuhr beschreibt die Tageszirkulation von Qi in unserem Meridiansystem. Der Energiekreislauf beginnt mit der Lunge und endet mit der Leber: Um 3:00 fließt das Qi über den Punkt Leber 14 zu dem Punkt Lunge 1. Leber 14 – Qi Men – ist das „Tor des Zyklus“, weil hier ein Zyklus endet und ein neuer beginnt. Das Verständnis der Organuhr kann uns helfen, unseren Alltag besser auf bestimmte Energiephasen abzustimmen. Die Lungenzeit (3:00 - 5:00) ist zum Beispiel ideal, um den Tag mit sanften Atem- und Körperübungen zu beginnen. Hier können wir die Lunge mit Qi aufladen, das sich dann dem Energiekreislauf folgend tagsüber in unserem System ergießt. Die Essenszeit am Morgen gehört dem Erdelement, das mehr Kohlehydrate verträgt als das Wasserelement, das lieber Proteine mag und seine energetische Fülle am frühen Abend hat. Dafür sollte Kaffee um die Mittagszeit gemieden werden, weil er direkt das Herz adressiert. Und warum der Schlaf vor Mitternacht besonders wichtig ist, liegt an der Funktion des Dreifachen Erwärmers (21.00 – 23.00), der unseren gesamten Stoffwechsel konsolidieren kann, wenn wir ihm die notwendige Ruhe dafür geben. Insofern ist die Organuhr ein praktisches wie lebensnahes Werkzeug. Aber auch in Shiatsu können wir von den in der Organuhr zu findenden Zusammenhängen profitieren. Machen wir uns auf die Suche...
ELEMENTARE VERBINDUNGEN
In Shiatsu hat sich vor allem das System der Fünf Elemente etabliert, um energetische Dynamiken innerhalb der Meridiane und der Zang Fu nachvollziehbar zu machen. Die Fünf Elemente sind dabei aber nur eines von vielen möglichen Systemen. Interessant in diesem Zusammenhang: Die etablierte Darstellung der Fünf Elemente zielt vor allem auf die Interaktion der Zang Fu ab, wenn es um Disharmonien geht, um Zang Fu Pathologien. Geht es um psychisch-emotionale Prozesse, finden wir in der Organuhr jedoch viele elementare Verbindungen. Und auf diesen aufbauend Anregungen wie wir unseren Behandlungszugang rasch und unkompliziert vertiefen können. Dazu müssen wir uns vom Fünf Elemente Denken befreien. Denn in den Fünf Elementen nährt das Erdelement das Metallelement. In der Organuhr ist es jedoch genau umgekehrt...
METALL STÄRKT DIE ERDE
In der Organuhr steht das Metallelement vor dem Erdelement, das heißt, dass das Erdelement Energie vom Metallelement bekommt. Und nicht nur in der Organuhr steht die Lunge ganz am Anfang, auch in unserem Leben. Der erste Atemzug hat eine ganz entscheidende Bedeutung für unser System, der eine Kettenreaktion an physiologischen Prozessen initiiert. Der göttliche Odem, der uns zum Leben erweckt. Atmung regiert das Qi, Atmung ist Qi und Qi ist Leben. Ohne Atmung überleben wir nicht lange. Ohne Nahrung kommen wir hingegen lange aus. Sehen wir das Erdelement und das Metallelement als Quellen des postnatalen Qi, dann übernimmt das Metallelement die wesentlich zentralere Rolle. Die Lunge ist es auch, die den für unseren Stoffwechsel unentbehrlichen Sauerstoff liefert. Ohne Sauerstoff keine Verbrennung. Zudem unterstützt eine tiefe Atmung die Darmperistaltik. Die Lunge ist auch unser oberstes Organ im Thorax. Sie ist der Himmel. Dann kommt die Erde. Natürlich: Der Dickdarm folgt dem Magen, das ist klar. Hier füttert die Erde das Metall. Wobei: Eigentlich füttert der Magen den Dünndarm, Erde füttert Feuer, so ist das auch in der Organuhr. Darauf kommen wir noch zurück.
Shizuto Masunaga hat als Darstellung für seine Interpretation der Meridiandynamik gerne das Bild einer Amöbe, eines einzelligen Lebewesens, verwendet. Jedes Lebewesen braucht zuerst eine Grenze, um sich als solches überhaupt definieren zu können, um lebensfähig zu sein. Bei der Amöbe ist diese Grenze die Zellmembran. Mit der Zellmembran geschieht ein Ab- und ein Eingrenzen. Ein Abgrenzen von der Umgebung. Ein Eingrenzen dessen, was die Amöbe eigentlich ausmacht. Eine Funktion des Metallelements, das bei Masunaga im Sinne seiner Meridianevolution an vorderster Stelle steht. Dann folgt das Erdelement. Weil erst durch die Grenzziehung ein Lebewesen mit Bedürfnissen entsteht. Zum Beispiel Hunger. Die Grenzziehung ist aber nicht nur notwendig, um überhaupt eine Mitte als solche zu definieren, sie beschützt diese auch. Eine Burgmauer schützt den Palast. Ohne Burgmauer ist der Palast exponiert, lässt sich leichter angreifen. Und genau in diesem Aspekt stärkt das Metallelement das Erdelement.
Viel Menschen kommen zu Shiatsu, um in ihre Mitte zu kommen oder diese zu stabilisieren. Im System der Fünf Elemente ernährt das Feuerelement das Element der Mitte, das Erdelement. Viel lebensnaher ist es jedoch, zur Stärkung der Mitte das Metallelement in den Mittelpunkt zu stellen. Warum?
Eine gut funktionierende Grenzziehung macht die Mitte deutlich: Hier bin ich zuhause, das ist mein Zuhause. Eine schwache Grenze ergibt einen Palast ohne Burgmauer. Ein Kommen und Gehen ohne Kontrolle.
Es kann zu vielen Grenzübertretungen kommen, psychisch, emotional. Jeder holt sich, was er braucht. Jeder lässt dort, was er nicht mehr braucht. Wer sich nicht gut abgrenzen kann ist anfällig dafür, vieles persönlich zu nehmen. Wer sich nicht gut abgrenzen kann, verliert sich leichter im Außen. Was ist meines? Was ist deines? Wo bleibe ich? Wer bin ich? Das sind die Fragen, die uns dann gerne beschäftigen. Die Suche nach der verlorenen Mitte.
Die Lunge steht für das große Ja zum Leben und für das Ja zu sich selbst. Der Dickdarm sagt Nein zu den Dingen, die wir nicht oder nicht mehr brauchen. Die Kombination von beiden resultiert in einem starken Gefühl für sich selbst und seine Bedürfnisse, in einem starken Erdelement. Weiters steht die Lunge für eine Orientierung Richtung Zukunft, der Dickdarm hält gerne an der Vergangenheit fest. Beim Erdelement ist der Magen der Denker und die Milz der Grübler. Sind wir zu sehr mit Zukunft oder Vergangenheit beschäftigt, zieht das unsere Gedanken aus dem Hier und Jetzt, aus der Mitte. Vieles, das dem Erdelement schwer im Bauch liegt, kommt vom Metall. Das würde dem Erschöpfungszyklus der Fünf Elemente entsprechen. Das Kind laugt die Mutter aus. Umgekehrt können die positive Integration der individuellen Vergangenheit und ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft die Erde stärken. Auch hier lohnt sich also ein Blick auf das Metallelement.
Wie auch in Bezug auf den Po, dem Elementargeist der Lunge. Das Erdelement wird gerne mit unserer physischen Form in Verbindung gebracht. Unser Körper repräsentiert die Erde. Der Po gilt jedoch als Architekt der Form. Er steht für unseren animalischen Instinkt. Der sechste Sinn. Die feine Nase. Er weiß, was uns wirklich gut tut. Derart gestaltet er die Form mit. Ein guter Po sorgt für eine natürliche Entfaltung und Entwicklung auf körperlicher Ebene. Ein schwacher Po kann zu einer Entgleisung der Form führen, weil wir uns gegen unsere innere Natur ernähren oder zu wenig bewegen. Spannend in diesem Zusammenhang ist, dass viele Essstörungen ihre Ursache im Metallelement haben, vor allem die Anorexie, bei der das Metallelement vor einer entsprechenden Nahrungszufuhr die Grenze zieht. Wieder steht das Metallelement vor dem Erdelement. Geht es um Erdthemen, haben wir mit dem Metallelement einen sehr wirkungsvollen Hebel in der Behandlung, um die Mitte zu stärken. Das entspricht der Abfolge der Organuhr. Beachten wir diese Zusammenhänge nicht, kann es sein, dass sich durch einen reinen Ansatz in der Erde weniger bewegt.
ERDE STÄRKT DAS FEUER
In der Organuhr kommt die Milz vor dem Herz. Das hat einen guten Grund. Das Herz ist zu 90% yang. Es braucht wie kein anderes Organ Yin. Vor allem in Form von Blut. Weil der Elementargeist des Herzens, der Shen, im Blut zu Hause ist. Dieses liefert die Milz. Herzblutmangel aufgrund von Milz Qi Schwäche ist ein sehr weit verbreitetes energetisches Muster. Bei einer Schwäche der Milz hat das Yin Organ der Erde nichts in der Hand, um etwas an das Herz weiterzugeben. Dieses wird leer und läuft dann gerne heiß, wie ein Motor ohne Öl. Die Ursachen dafür können allerdings auch im Magen liegen. Der läuft nämlich ebenfalls gerne heiß. Und tangiert mit seinem äußeren Verlauf das Herz. Mit einer inneren Abzweigung durchdringt er das Herz. Hitze im Magen kann schnell das Herz angreifen. Weil die Hitze das für das Herz so notwendige Yin verdampft.
So oder so: Die Schlüsselsymptome sind: Schreckhaftigkeit, emotionelle Empfindlichkeit, Unruhe, Gedächtnisprobleme sowie Durchschlafstörungen trotz großer Müdigkeit. Der Shen wird unruhig. Er verliert sein Zuhause. Er wird nervös. Er wird instabil. Er flackert wild durch die Gegend. In Summe ein Zustand, den man nicht gerade als zentriert bezeichnen würde. Im Zyklus der Fünf Elemente ernährt zwar das Holzelement das Feuer. Das hilft dem Shen ohne Zuhause aber wenig. Im Gegenteil. Die Sache ist die: Auch die Leber ist sehr auf Yin und Blut angewiesen. Sonst wird sie zu trocken. Das Resultat: Ein Strohfeuer ohne Substanz. Die Substanz kommt von der Erde. Auf allen Ebenen. Denn der Elementargeist der Leber, der Hun, braucht nicht nur Yin und Blut, er soll vor allem Visionen kreieren, die direkt aus unserer Mitte entspringen.
So wie ein Baum tief in der Erde verwurzelt sein muss, um hoch zu wachsen. Oft wurzelt der Baum der Visionen aber nicht in unserer Mitte, sondern in der Mitte anderer.
Denn es gibt nicht nur unseren individuellen Hun. Es gibt auch einen familiären Hun, einen gesellschaftlichen Hun, einen Shiatsu Hun, einen geschichtlichen Hun… Hun ist das Speicherbewusstsein, dass das Bewusstsein Shen mit Bildern füttert, aus denen die Visionen entstehen können, die das Herz mit Leidenschaft verfolgen sollte. Welchen Speicher zapfen wir an? Wo wurzelt unser Holz? Der Hun muss eng mit unserer Mitte in Verbindung stehen, um den Shen mit Bildern zu nähren, die wirklich Substanz haben. Sonst folgen wir nicht unseren inneren Bildern, sondern den Träumen der Eltern oder den Konventionen der Gesellschaft. Das Herz brennt dann zwar. Aber für Sachen und Ideen, die nicht wirklich unsere eigenen sind. Das brennt uns schnell einmal aus. Das Erdelement stützt in diesem Sinne auch das Holzelement, was sich in der Organuhr darin bestätigt, dass die energetische Hochphase des Erdelements am Vormittag ist, in der Tagesphase des Holzelements.
Und dann geht es noch um Zufriedenheit, Fülle und Stabilität. Alles Erdqualitäten. Sieht man das Herz als Kaiser der Organe, dann ist klar, was es am meisten stärkt: Zufriedenheit, Fülle und Stabilität in seinem Hoheitsgebiet. Vor allem die Stabilität ist entscheidend. Qualitäten des Feuers, wie Leidenschaft oder Begeisterung, können sich auf Dauer nur auf Basis einer inneren Stabilität zufriedenstellend entfalten. Haben wir es in Shiatsu mit Themen des Feuerelements zu tun, lohnt sich also ein Blick auf das Erdelement.
FEUER STÄRKT DAS WASSER
In den Fünf Elementen gehen wir davon aus, dass das Wasserelement das Feuerelement kontrolliert. In der Organuhr stärkt hingegen das Feuerelement das Wasserelement, Herz und Dünndarm kommen vor Blase und Niere. Das zeigt sich in der Praxis wesentlich lebensnaher. Wir können das Feuerelement hervorragend verwenden, um das Wasserelement zu unterstützen, zu nähren. Warum? Die Nieren gelten als Sitz der Lebenskraft, als Speicher unserer Essenz. Es wird daher viel in die Nieren investiert, in Shiatsu. Wollen wir diese stärken, dann denken wir zuerst an die Quellen des postnatalen Qi, an die Lunge und an die Milz, aber auch an Ruhe und Regeneration. Die Ernährung muss passen, die Atmung muss passen, viel Schlaf und Meditation. Alles schön und gut. Nichts liefert uns jedoch schneller und nachhaltiger Energie als Begeisterung. Nichts wärmt die Nieren mehr als Leidenschaft. Allerdings: Wie schon beim Zusammenhang zwischen Erde und Feuer dargestellt, müssen Leidenschaft und Begeisterung direkt aus der Mitte entspringen, aus unserem Zentrum, müssen dem entsprechen, was uns ausmacht, nur das liefert einen Glutstock, der Konstanz hat. Leere Strohfeuer würden das Wasser nur verdampfen. Aber der Reihe nach...
Die Nieren regieren unsere Willenskraft. Willenskraft ist ein Aspekt des Nieren Yang. Es ist schwer möglich wirkliche Willenskraft zu entfalten, wenn das Herz nicht dahinter steht.
Da hilft auch stundenlanges Moxa nichts. Nur wenn wir mit Leib (Erdelement) und Seele (Shen) hinter Ideen oder Projekten stehen, kann sich wahre Willenskraft entfalten. Das erklärt auch, warum in der Organuhr der Dünndarm zwischen Herz und Wasserelement steht. Es geht um Klarheit. Klarheit in Bezug auf was wir wollen. Unklarheit attackiert sofort die Nieren. Weil Unklarheit immer auch Unsicherheit bedeutet. Bewusstsein und Klarheit geben Kraft, das ist die wahre Essenz für die Nieren. Das Feuer stärkt was Wasser.
Die Nieren reagieren unsere Sexualität. Rein funktionell kann Sexualität direkt aus den Nieren kommen. Energetisch werden sie dadurch aber eher geschwächt, was in vielen Texten auch zu lesen ist. Sexualität mit Leidenschaft basierend auf Liebe kann die Nieren jedoch nähren. Und Leidenschaft und Liebe können die Sexualität stimulieren. Bei vielen Disharmonien in Bezug auf diese Funktion der Nieren, ist der Weg über das Feuer der wesentlich konstruktivere Zugang, von Lustlosigkeit bis Zeugungsschwierigkeiten, es geht meist um Kälte. Und was schmilzt die Kälte besser als Wärme und Zuneigung? Ein ehrlich gemeintes „Ich liebe dich“ hat stärkeren Einfluss auf die Nieren als die beste Kräuterrezeptur...
Die Nieren brauchen Regeneration, vor allem Schlaf. In der Traditionellen Chinesischen Medizin hat jede Form von Schlafstörungen direkt oder indirekt mit dem Herzen zu tun. Wie kann also das Wasserelement die so wichtige Ruhe finden, wenn das Herz unruhig ist. In der Organuhr füttert das Feuer das Wasser. Kommt das Feuer nicht zur Ruhe, wird erholsamer Schlaf schwer möglich sein. Sicher, es gibt Schlafpathologien, die auf einer Auszehrung des Nieren Yin beruhen. Die Frage ist jedoch: Was hat das Nieren Yin verletzt? In vielen Fällen ist es die Hitze, die sich über die Organuhr auf die Nieren überträgt. Auch hier lohnt sich also ein Blick auf das Feuer, wenn es um das Wasser geht.
WEITERE ZUSAMMENHÄNGE
Folgt man der Organuhr weiter, ergeben sich noch viele spannende Zusammenhänge, die den praktischen Zugang mit Shiatsu vertiefen können. Niere und Blase füttern Perikard und Dreifachen Erwärmer. Wasser stärkt Feuer. Und Feuer stärkt Holz: Gallenblase und Leber stehen am Ende des Energiekreislaufes, der mit den Übertritt des Qi in die Lunge einen neuen Zyklus erlebt. Aber auch die Arbeit mit den Oppositionszeiten ist ein interessantes Feld: Wie hängen Lunge und Blase zusammen? Warum sind Herz und Gallenblase gekoppelt? In der Praxis treffen wir immer wieder auf energetische Dynamiken, die sich schwer in das Korsett der Fünf Elemente pressen lassen. Oder bei denen ein klassischer Behandlungsansatz über die Fünf Elemente keine fruchtbaren Ergebnisse liefert. Ein Studium der Organuhr kann uns hierbei helfen, neue Wege zu entdecken und einzuschlagen. Dazu will ich mit diesem Beitrag animieren. Genauso wie zu weiteren Diskussionen, über die ich mich sehr freuen würde.
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